Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

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Inhaltsangabe > 3. Ergebnisse der Balkanlinguistik > 3.2 Erklärungsmodelle > 3.2.1 Herkunft der Balkanismen >

3.2.1.3 Komplexe Erklärungsmodelle

War Sandfeld noch bestrebt, eine einzige Quelle, sprich Herkunftssprache, für die Balkanismen ausfindig zu machen, nämlich das Griechische, so wich Reichenkron, als er auch das Balkan-Latein als zweites Adstrat in seine Überlegungen miteinbezog, von einem monokausalen Erklärungsmodell ab. Nach Schaller, der dazu noch das Slavische als drittes Adstrat berücksichtigt, lassen sich die Balkanismen nach ihrer Herkunft in drei Gruppen unterteilen:

1. Balkanismen, die wahrscheinlich auf griechischen Einfluß zurückzuführen sind, so z.B. der völlige oder auch teilweise Verlust des Infintivs.
2. Balkanismen, die auf romanischen Einfluß zurückzuführen sind, so z.B. der Zusammenfall von Genitiv und Dativ.
3. Balkanismen, die auf slavischen Einfluß zurückuführen sind, so die Bildung der Zahlwörter von 11 bis 19. (1975, S. 119)

Ein Thrako-illyrisches Substrat scheidet nach Schaller als Herkunftssprache der strukturellen Balkanismen aus (vgl. 1975, S. 114 ff).

Neben den eigentlichen Herkunftssprachen, in denen sich die künftigen Balkanismen zuerst entwickelten, mussten freilich noch diejenigen Balkansprachen berücksichtigt werden, über die sich diese Merkmale als Interferenzen weiterverbreiteten. Schon Kopitar, der die Balkanismen auf ein Substrat zurückführte, war gezwungen, für die balkanische "Form" der bulgarische Sprache eine gegenüber dem Rumänischen und Albanischen andersartige Erklärung zu finden; konnten die Slawen die "Form", die die rumän. und alban. Sprache aufwiesen, doch erst nach der Landnahme aufnehmen:

diese Form [der Wlachen, sc.] war so unvertilgbar, daß, als am Schluss der Völkerwanderung die bulgarischen Slawen sich zahlreich im Gebiete dieser thracischen langue romane ansiedelten, sogar ihr Slawisch im Verkehr mit Walachen auch in diese Form [...] umgeprägt ward! (S. 253)

Die These, dass die Bulgaren die Balkanismen mittelbar von den Rumänen entlehnt haben, vertritt rund hundert Jahre später auch Weigand:

Wohl aber hat das Rumänische einen starken Einfluß auf das Mittelbulgarische ausgeübt. Alles das, was dem heutigen Bulgarischen seine Sonderstellung unter den slavischen Sprachen gibt, wie nachgestellter Artikel, Beschränkung im Gebrauch des Infinitivs, Verlust der Casusflexion und manches andere kann nur durch rumänischen Einfluss in das Bulgarische gelangt sein, denn das Altbulgarische kannte dies alles noch nicht. [...] Eine direkte thrakisch-albanische Beeinflussung ist ausgeschlossen, weil das Altbulgarische rein slavischen Charakter hat und eine spätere Berührung nicht mehr stattgefunden haben konnte, da die Albaner nach Südwesten abgewandert waren. (S. VII/VIII)

Mit der Rolle, die er dem Rumänischen zugestand, setzte sich Weigand freilich in scharfem Gegensatz zu Sandfeld und dessen Vorliebe für das Griechische.

Steinke zufolge liege

in gemeinsamer Ursprung zugrunde
a.in Form eines Substrates, Adstrates oder Superstrates,
b.als Folge einer Symbiose, die die Konvergenz begünstigte. (1976, S. 32)

Er gibt allerdings zu bedenken, dass

Zu diesem Punkt [...] eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich [ist], weil hierfür zuverlässige Argumente fehlen. Überhaupt sind die beiden Punkte a und b nicht alternativ, sondern eher additiv zu verstehen. Freilich liegt die Vermutung nahe, daß das häufige Auftauchen ähnlicher Erscheinungen auf einem geographisch begrenzten Raum auch eine gemeinsame Ursachen hat, nur bleibt dies eben eine Vermutung und dies ist noch kein gültiger Beweis. (S. 32/33).

Die Frage, ob es einen Ursprung für die Balkanismen gebe, berührt schließlich auch die allgemeine Sprachbundtheorie, ich werde sie deshalb in dem Kapitel 4.2.2.2 Unilaterale Beeinflussung der Sprachen? im Hinblick auf die Definition des Begriffs Sprachbund noch einmal aufgreifen.

3.2.2 Periodisierung >