Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

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Inhaltsangabe > 4. Die Sprachbundtheorie > 4.2 Spätere Ergänzungen zu Trubetzkoys Definition > 4.2.1 Die sprachlichen Merkmale (Balkanismen) >

4.2.1.1 Exklusivität der Balkanismen

Die folgende Tabelle Hinrichs’ (S. 434) zeigt deutlich, dass die Forderung, sprachbundbildende Merkmale dürfen nur innerhalb eines Sprachbundes vorkommen, von keinem Balkanismus erfüllt werden kann!

Die Balkanismen außerhalb der soe. Sprachen. Synopse
Balkanismus Sprachen
1. Illabiales Vokal(phonem) Russ.; Dtsch.; (Allophone); Altbulg.; Türk.
2. Kasusreduktion Engl.; Franz., Ital., Portug.; Serb. dial.;
3. ‚Lokativischer’ Zähltyp Slavia; Lettisch; Ungar.
4. Nachgestellter Artikel Armen., Schwed., Russ./Serb. dial.; ?Altbulg.; Thrak., Toch.; ?Türk., Bask., Mordv.
5. Vokative Slavia: Poln., Cech, Serbokroat.; Russ. umgg.; Gäl.
6. Analytischer Komparativ Engl.; Französ.; Italien; Russ./Poln./Serb. (fak.); Türk.; Pers.; Romani
7. Adnominaler Dativ Serb.; Türk., Russ., Altbulg., Kroat. umgg.; Dtsch. dial.
8. Doppeltes Objekt Span.; portug.; Bask.; Romani; Russ./Poln./Cech umgg., Serb. dial., Dtsch. dial., /Kelt.
9. Periphrast. Futur (VOLO) Engl.; Franz., Italien.; serbokroat.; Romani; Pers.
10. Ersatz des Infinitivs Romani; Gagaus.; Arab.; Altbulg.; Pers.; ?Ungar.
11. Modus Evidentialis Turksprachen
12. Ausgebautes Verbalsystem Engl.; Roman.; Altbulg.

Die Sprachen, die Hinrichs hier beispeilhaft aufführt, lassen sich in drei Gruppen unterteilen:

1. Sprachen, die zwar nicht als klassische Balkansprachen gelten, aber geographisch gesehen entweder innerhalb des Balkansprachbundes oder an dessen Grenzen gesprochen werden bzw. wurden; so z.B. Serbisch, Ungarisch, Romani, Gagausisch als lebende Sprachen und Thrakisch, Altkirchenslawisch als ausgestorbene Sprachen. Diese Sprachen können aufgrund o.g. Beispiele durchaus als Kandidaten des Balkansprachbundes angesehen werden. Als Kriterium hierfür wird üblicherweise die in der betreffenden Sprache vorhandene Anzahl der Balkanismen herangezogen (vgl. folgendes Unterkapitel 4.2.1.2 Mindestanzahl der Übereinstimmungen). Die betreffenden Beispiele machen deutlich, dass einzelne Struktur-Isoglossen weit über die Grenze des Balkansprachbundes hinausreichen.

2. Sprachen, die mit einzelnen Balkansprachen genetisch verwandt sind, wie z.B. Französisch, Italienisch, Russisch, Polnisch. Reichenkron bemerkt hierzu richtig:

es gibt keinen einzigen Zug innerhalb der Balkansprachen, gleichgültig, ob er alle Balkansprachen oder nur einen Teil von ihnen umfaßt, der nicht auch zumindest in einer der Sprachgruppen wiederkehrt, zu denen die eine oder andere der Balkansprachen gehört (S. 95).

Diese Tatsache spricht keineswegs gegen einen Sprachbund, sofern bei der Definition auf das Kriterium der Exklusivität der Balkanismen verzichtet wird. So kann z. B. der "lokativische Zähltyp" durchaus als slavische Mitgift in den Balkansprachbund verstanden werden.

3. sonstige Sprachen, wie z.B. Dänisch, Baskisch oder Tocharisch. Diese Beispiele zeigen, dass die Übereinstimmungen auch zufälliger Art sein könnten. Um solche Sprachen von vornherein als Balkansprachen auszuschließen, wird das Kriterium der Benachbarung angewandt (vgl. 4.2.3.2 Benachbarung der Sprachen).

Diese drei Punkte machen zudem deutlich, dass eine Abgrenzung des Sprachbundes nach außen allein anhand des Vorhandenseins gemeinsamer Merkmale sehr schwierig ist. Keines der von Hinrichs angeführten Balkanismen ist exklusiv in den Balkansprachen vorhanden.

4.2.1.2 Mindestanzahl der Übereinstimmungen >