Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

HTML-Version, © 2000 / 2005 by Jörg Kruse

Zur Haupt-Navigation

Inhaltsangabe > 4. Die Sprachbundtheorie > 4.2 Spätere Ergänzungen zu Trubetzkoys Definition > 4.2.3 Die Sprachen (Balkansprachen) >

4.2.3.2 Benachbarung der Sprachen

Wie unter 4.2.1 Die sprachlichen Merkmale (Balkanismen) bereits beschrieben, ist die Benachbarung der Sprachen ein wichtiges Indiz für Sprachkontakt, der eine unabdingbare Voraussetzung für die Bildung eines Sprachbundes ist. Dementsprechend findet die Kontiguität zwangsläufig Eingang in die Definition des Sprachbundes, oft sogar als erster Punkt, so bei Georgiev (1977, S. 5) und bei Schaller: "1. Bei den Migliedern eines Sprachbundes handelt es sich um Sprachen, die benachbart sind und in ein und demselben geographischen Raum gesprochen werden." (1975, S. 51) Dass dieser geographische Raum in der Regel sogar zur Bezeichnung eines Sprachbundes dient, wie z.B. Balkansprachbund, Donausprachbund, Baltischer Sprachbund etc., zeigt die Bedeutung, die diesem Kriterium beigemessen wird.

Deutliche Kritik übt dagegen Reiter an einer solchen Charakterisierung der Sprachen:

Entgegen weitverbreiteter Ansicht haben "Sprachen" – nennen wir sie einfach so – keinen Raum und können darum auch räumlich gar nicht benachbart sein. Das liegt daran, daß sprachliche Zeichen selbst schon intellektuelle Gebilde und daher unräumlich – ebenso wie unzeitlich – sind. Aus diesem Grunde auch können "Sprachen" gar nicht miteinander in Kontakt treten. Zwischen wem allein sich Kontakte herstellen, sind die Menschen, und mit der Sprache hat das insofern zu tun, als es die Menschen sind, die die sprachlichen Zeichen wissen. (S. 19/20)

Daraus folgt für Reiter, dass der zwischen den Individuen stattfindende Sprachkontakt nur sehr schwer anhand areallinguistischer Betrachtungen nachvollzogen werden kann:

Die sprachliche Benachbarung als Abbild der menschlichen anzunehmen, rechtfertigt sich aber nur bei seßhafter Bevölkerung, also bei Ackerbau treibender. Nur unter dieser Bedingung können überhaupt Isoglossen festgestellt, kann eine Dialektologie herkömmlicher Art betrieben werden. [...]. Auf die heutige Industriegesellschaft sind die Modellvorstellungen der Dialektologie nicht anwendbar, und wieweit sie es auf Zustände in der Vergangenheit sind – sagen wir im 6. und 8. Jh., noch dazu auf dem Balkan – läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen. (S. 20/21)

Eine Alternative zu der arallinguistischen Betrachtungsweise eines Sprachbundes sieht Reiter dennoch nicht:

Wollen wir nicht vollends resignieren, so werden wir uns an das halten müssen, was uns gegeben ist, und das ist nun einmal die sprachliche Benachbarung, doch werden wir sie stets unter Kontrolle halten und uns fragen müssen, unter welchen Umständen und für welches Ziel sie als einigermaßen zuverlässig angenommen werden darf. (S. 21)

4.2.3.3 Mindestanzahl der Sprachen >