Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

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Inhaltsangabe > 3. Ergebnisse der Balkanlinguistik > 3.1 Die Balkanismen > 3.1.2 Kategorisierung und Gewichtung der Balkanismen >

3.1.2.2 "Makro-", "Mikro-" und "systematische" Balkanismen

Eine weitere Unterscheidung trifft Hinrichs, um "eine arbeitsfähigen Überblick zu erhalten" (S. 431). Es empfehle sich,

sich auf die die systematische Balkanismen zu beschränken und zunächst so etwas wie einen minimalen und konsensfähigen Kanon zu erstellen, der darüber hinaus zugleich das Arbeitsfeld im Kern umreißt (ebd.)

Diese "systematischen Balkanismen" definiert er folgendermaßen:

Dies ist jener set an grammatischen, systematischen und pragmatisch hochfrequenten Struktur-Interferenzen innerhalb bestimmter Kategorien, der seit jeher die einschlägige Forschung beschäftigt hat und den Kern der Balkanlinguistik bis heute bildet (ebd.)

Von diesen unterscheidet er nun die "Makro-" und die "Mikrobalkanismen". Die Makrobalkanismen sind

übergreifende allgemeine Tendenzen der Sprachsysteme bzw. der Standardsprachen im Rahmen des langfristigen Sprachwandels, die in den Einzelsprachen jeweils verschieden ausgeprägt sind. Sie beziehen sich meist auf die gesamte grammatische Struktur und sind nicht spezifisch auf einen Sektor bezogen. Untereinander sind sie auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Makro-Balkanismen sind z.B.: die Tendenz zum Analytismus, die Tendenz zur Hypertrophie des Verbalsystems und zur Hypotrophie des Nominalsystems (ebd.)

Bei den Mikrobalkanismen handelt es sich dagegen um

jenes unübersehbare Feld aus interessanten, zufälligen, bezeichnenden und oft genug nur kuriosen Ähnlichkeiten grammatischer oder semantischer Art, die oft spezielle Calques oder spezialgrammatische Trouvaillen sind, so etwa die Auslassung des persönlichen Pronomens es [...], generisches Aktiv bei schreiben [...], Zusammenrückungen beim Verb können oder die Verwendung von NICHT HABEN WANN für 'keine Zeit haben' [...] (ebd.)

Der "minimale Kanon" der Balkanlinguistik umfaßt nach Hinrichs nun folgende zwölf "systematische Balkanismen":

1.Illabiales Vokalphonem
2.Kasusreduktion
3.'Lokativischer' Zähltyp
4.Nachgestellter Artikel
5.Vokative
6.Analytische Komparation
7.Adnominaler Dativ
8.Doppeltes Objekt
9.Periphrast. Futur (VOLO)
10.Ersatz des Infinitivs
11.Lehnwörter
12.Kompl. Verbalsysteme (S. 432)

Interessant ist solch eine Liste von "konsensfähigen" Balkanismen im Hinblick auf die Definition des Begriffs Balkansprachbund. Hierzu wird nämlich auch die Anzahl der systematischen Balkanismen herangezogen, die die betreffenden Sprachen aufweisen (vgl. 4.2.1.2 Mindestanzahl der Übereinstimmungen). Dies tut z.B. auch Haarmann mit folgenden Übereinstimmungen: "Analytische Nominalflexion", "Formal-funktioneller Synkretismus von Genitiv und Dativ", "Synthetische Verbalflexion", "Existenz eines periphrastischen Futurs" (S. 83 f). Eine getrennte Auflistung im Sinne Hinrichs wäre hier durchaus angebracht. Es bleibt allerdings die Frage, wie "wasserdicht" Hinrichs o.g. Definitionen sind. Warum er nun die "Kompl. Verbalsysteme" unter Punkt 12. nicht als "Makrobalkanismus" sondern als "systematischen Balkanismus" zählt, leuchtet ebensowenig ein wie die Subsumierung der "Lehnwörter" unter Punkt 11.

3.1.3 Einzelsprachliche Ausprägung der Balkanismen >