Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

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Inhaltsangabe > 4. Die Sprachbundtheorie > 4.2 Spätere Ergänzungen zu Trubetzkoys Definition > 4.2.1 Die sprachlichen Merkmale (Balkanismen) >

4.2.1.2 Mindestanzahl der Übereinstimmungen

Nach Trubetzkoys Definition von 1930 weisen die Sprachen eines Sprachbundes eine "erhebliche Zahl von systematischen Übereinstimmungen" auf, die sich auf alle sprachlichen Teilsysteme verteilen (vgl. 4.1 Trubetzkoys Definition). Dagegen beschränken sich die phonologischen Sprachbünde, die Jakobson ein Jahr später beschreibt, wie der Name schon sagt, auf den phonologischen Bereich. So weist beispielsweise der "eurasische Sprachbund" nur eine einzige Übereinstimmung im lautlichen Beeich auf, nämlich die Polytonie. Jakobson bemerkt hierzu:

Der phonologische Gesichtspunkt scheint zu einem der fruchtbarsten Gesichtspunkte bei der Erörterung des Problems der Sprachbünde zu werden. Eine weite Expansion, die über die Grenzen einzelner Sprachen oder Sprachfamilien hinausgreift, kennzeichnet viele konstitutive Elemente der phonologischen Systeme. Im besonderen neigen einige phonologischen Korrelationen dazu, sich über ausgedehnte Sprachgebiete auszubreiten. (S. 137)

Nun unterscheidet sich ein solcher phonologischer Sprachbund sowohl in seiner Ausdehnung als auch in der Anzahl seiner sprachlichen Merkmale beträchtlich von dem Balkansprachbund. Birnbaum nimmt dies zum Anlass, zwischen "extensiven" und "intensiven" Sprachbünden zu unterscheiden:

der Intensitätsgrad von Sprachbünden [kann] variieren oder, bildlich gesprochen, das Netz der die Mitglieder eines Saprachbundes verbindenden Übereinstimmungen und gemeinsamen Züge verschieden dichtmaschig sein. So muß daher zwischen mehr oder weniger intensiven und mehr oder weniger extensiven Sprachbünden unterschieden werden. Hand in Hand mit dieser wechselnden Intensität, mit der ungleichen Dichte der gemeinsamen Erscheinungen geht ein Unterschied in der räumlichen Ausbreitung: je weniger dicht die Übereinstimmungen, je extensiver der betreffende Sprachbund, umso räumlich weitreichender, expansiver ist er gewöhnlich. (S. 15)

Dabei nimmt Birnbaum ausdrücklich Bezug auf Jakobsons "phonologischen Sprachbünde", deren "tatsächliche Existenz" er als "nicht völlig über alle Zweifel erhaben" ansieht (S. 16; weiter unten, S. 19, spricht er von einem "recht zweifelhaften Sprachverband"). Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dem Balkansprachbund um einen "auf einen verhältnismäßig engen geographischen Raum zusammengedrängten" und um einen "intensiven, an einer Reihe gemeinsamer nichtlexikalischer und nichtphonologischer, d.h. grammatischer (und phraseologischer) Züge erkennbaren Sprachbund." (S. 19)

Ab wann kann man nun von einem "intensiven" Sprachbund sprechen? Birnbaum spricht an anderer Stelle (S. 12) von einer "symptomatischen Anzahl gemeinsamer strukturell-typologischer Merkmale"; was ist in diesem Zusammenhang genau unter "symtomatisch" zu verstehen? Die genaue Anzahl wurde von verschiedenen Balkanlinguisten unterschiedlich festgelegt. Duridanov schließt durch seine Definition "intensive" Sprachbünde folgendermaßen aus:

Zwei oder mehrere benachbarte Sprachen bilden einen Sprachbund, wenn sie mindestens zwei gemeinsame typologische Merkmale morphologisch-syntaktischer Art oder zwei gemeinsame grammatische Modelle aufweisen (1977, S. 21)

Schaller beschränkt die Merkmale nicht auf den morphologisch-syntaktischen Bereich. Dafür stellt er an diese eine weitere Bedingung:

Ein Sprachbund weist mindestens zwei gemeinsame Merkmale auf, die sich auf mindestens drei nicht zur gleichen Familie gehörende Sprachen erstrecken, um genetisch bedingten Ursprung oder einseitige Beeinflussung im Definitionsbereich des Sprachbundes auszuschließen. (1975, S. 58).

Besonders für Haarmann, der in seinem Buch Aspekte der Arealtypologie eine Reihe von Sprachbünden (bzw. Arealtypen) beschreibt, ist eine genaue Definition unerlässlich:

Die Identifizierung eines Arealtyps (Sprachbundes) setzt voraus, daß eine Kombination paralleler Eigenschaften existiert. Dies bedeutet, daß zumindest zwei sprachliche Merkmale in einem Teilsystem (für mindestens zwei benachbarte Sprachen) nachgewiesen werden [...]. Damit entfallen für das Arbeitsfeld der Arealtypologie solche Parallelen als Studienobjekt, die singulär auftreten. (S. 24 f)

Auch Haarmann geht also von einer Mindestanzahl von zwei Merkmalen aus, diese müssen allerdings ein und demselben Teilsystem zuzuordnen sein. Ein syntaktisches und ein phonolgisches Merkmal reichen also nicht aus, um von einem Sprachbund zu sprechen.

Anscheinend besteht weitgehend Einigkeit darin, für einen Sprachbund mindestens zwei strukturelle Übereinstimmungen vorauszusetzen. Dennoch bleibt eine solche Grenze willkürlich, und ist darüberhinaus so niedrig angesetzt, dass sie auch nur die Gleichsetzung einer einzelnen Struktur-Isoglosse mit einem Sprachbund ausschließt.

4.2.2.1 Neuerung vs. Konservierung ererbter Merkmale >