Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik
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Inhaltsangabe > 3. Ergebnisse der Balkanlinguistik > 3.3 Die Balkansprachen >
3.3.2 Weitere Balkansprachen? / dialektale Differenzierung
Verschiedene Balkanlinguisten versuchten, auch weitere Sprachen in das Inventar der Balkansprachen aufzunehmen. So erweitertete beispielsweise Reichenkron den Umfang des Balkansprachbundes in geographischer Hinsicht nach Nordwesten:
Es ist schon von verschiedenen Seiten festgestellt worden, daß die Sprachen in Südosteuropa, die man gewöhnlich „Balkansprachen“ nennt, eine Reihe von gemeinsamen sprachlichen Zügen aufweisen. [...]. Es sind dies die beiden, den alten indogermanischen Charakter in verschiedenem Maße bewahrenden Sprachen des Griechischen und Albanischen; die drei südslawischen Sprachen: Bulgarisch, Serbokroatisch und Slowenisch; das romanische Rumänisch, und bis zu einem gewissen Grade die nicht indogermanischen [...] Sprachen des Türkischen und Magyarischen. (S. 91)
Für diese Sätze wurde Reichenkron viel gescholten, insbesondere in bezug auf das Slowenische, für das er keine Beispiele (Balkanismen) anführt (vgl. hierzu Birnbaum, S. 22). Aber auch das Ungarische findet als Balkansprache nur wenige Anhänger.
Eine Sprache fand dann allerdings Eingang in das Inventar der Balkansprachen, nämlich das Makedonische. Das verdankte sie allerdings in erster Linie nicht engagierten Sprachwissenschaftlern, sondern dem Staatsmann Tito, der sie 1944 in den Stand einer Amtssprache heben ließ. Dies zeigt freilich ein grundsätzliches Problem, mit dem sich Sprachbundforscher auseinanderzusetzen haben: die Definition der grundlegenden Begriffe Sprache, Mundart, Dialekt etc., die eben oft auch politisch-kulturellen Gegebenheiten folgen muss. Das beste Beispiel hierfür ist sicher die serbische Variante des Stokavische Dialekts. Während Kopitar diese für seine Zeit politisch korrekt als Serbisch bezeichnete, gebraucht Reichenkron im Jahre 1963 selbstverständlich die Bezeichnung Serbokroatisch, welches nunmehr allerdings auch die kroatische Variante des Stokavischen Dialekts miteinschließt, sowie den kajkavischen und den cakavischen Dialekt. Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens in den Neunziger Jahren führte schließlich auch zum (erneuten) Auseinanderbrechen der Sprache Serbokroatisch in Serbisch, Kroatisch, Bosnisch und evtl. auch Montenegrinisch.
Was nun das Serbische bzw. Serbokroatische anbelangt, so wies Birnbaum darauf hin, dass in bezug auf die Zugehörigkeit zum Balkansprachbund auch innerhalb dieser Sprache zu differenzieren sei: "Einen im ganzen ausgeprägt balkanischen Sprachtypus weist das Torlakische (auch Prizren-Timok-Mundarten genannt) auf." (S. 44) Es folgt die Aufzählung einiger Balkanismen, die für das Torlakische kennzeichnend sind und es von dem stokavischen Serbisch unterscheidet, so z. B. "3. analytische Deklination [...] 5. postpositver Artikel [...] 7. doppelte Setzung des Personalpronomens als Objekt" (ebd.). Umstritten bleibt bis heute die Frage, ob es sich bei dem Torlakischen nun wie beim Stokavischen um einen eigenständigen Dialekt handelt oder nicht. Was nun die Zugehörigkeit der südslawischen Sprachen zum Balkansprachbund anbelangt, entwirft Birnbaum schließlich ein weitaus differenzierteres Bild als Reichenkron (der allerdings nicht von einem Sprachbund spricht, sondern von einem Sprachtypus):
Als balkanslavische Sprachen im linguistischen Sinne, d.h. als Vollmitglieder des balkanischen Sprachbundes können nur Bulgarisch und Mazedonisch (sowie Torlakisch bei nicht endgültig geklärter Übergangsstellung zwischen Mazedo-Bulgarisch und stokavischem Serbokroatisch) gelten, während das eigentliche Serbokroatisch als am Rande des balkanischen Sprachbundgebietes sich erstreckend nur bedingt als balkanslavische Sprache bezeichnet werden kann. (Birnbaum, S. 58/59)
Auch für die anderen Balkansprachen war eine dialektale Differenzierung vonnöten. Bereits Kopitar hat bei seinem Textvergleich neben einer bulgarischen und einer albanischen Version der Parabel vom verlorenen Sohn gleich drei verschiedene Texte in rumänischer Sprache miteinbezogen, nämlich zwei im dakorumänischen Dialekt (den einen in kyrillischer (S. 264/265), den anderen in lateinischer Schrift (S. 266/267)) sowie einen im aromunischen Dialekt (S. 268/269). Das Aromunische wird wie auch das Meglenitische auf der eigentlichen Balkanhalbinsel, nämlich südlich der Donau, gesprochen, ganz im Gegensatz zu der Staatssprache Rumäniens, dem Dakorumänischen. Neben den Dialekten kennt das Rumänische wie das vormalige Serbokroatische auch eine Abspaltung aus politischen Gründen, nämlich das Moldauische. Zu Zeiten Stalins wurde dieser Mundart die kyrillische Schrift verordnet, um ihren eigenständigen Charakter gegenüber dem (Dako-)Rumänischen zu unterstreichen. Politisch korrekt gegenüber dieser Doktrin der UdSSR verhielt sich Haarmann, als er das Moldauische als "Kulturdialekt" in die Liste der Balkansprachen aufnahm (S. 77).
Eine dialektale Differenzierung des Albanischen wurde bereits von Miklosich berücksichtigt, so unter Punkt 6 seiner "sprachlichen Erscheinungen, die auf das alteinheimische Element zurückgeführt werden zu sollen": "Bildung des Futurum durch Verbindung eines velle bedeutenden Verbum mit dem Infinitiv [...] e) im toskischen Dialekt des Albanischen" (S. 6).
In letzter Zeit wurden auch kleinere Sprachen in die balkanlinguistischen Untersuchungen miteinbezogen, so z.B. das Gagausische (Haarmann, ebd.), das Romani oder das Judäo-Spanische.