Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

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Inhaltsangabe > 2. Balkanlinguistik und Sprachbundforschung: historischer Überblick >

2.2 Trubetzkoy und die Sprachbundforschung

So wie mit Sandfeld eine Entwicklung abgeschlossen war, so begann mit Trubetzkoy für die Balkanlinguistik ein neuer Abschnitt. Während Sandfeld noch ein Vertreter der historischen Sprachwissenschaft war, aus der er die Balkanlinguistik als eigenen Wissenschaftszweig ausgliederte, legte der Strukturalist Trubetzkoy mit seiner Sprachbunddefinition den Grundstein für die allgemeine Sprachbundforschung. Als einfachstes Betätigungsfeld bot sich dem Strukturalismus das phonologische Teilgebiet an. So verwundert es nicht, dass Roman Jacobson, wie Trubetzkoy auch ein Vertreter der Prager Schule schon 1931 die ersten phonologischen Sprachbünde beschrieb.

Der Begriff Sprachbund, dessen Einführung Trubetzkoy zur Unterscheidung von dem Begriff Sprachfamilie einführte (auf dem ersten internationalen Kongress der Linguisten in Den Haag 1928, vgl. Kapitel 4.1 Trubetzkoys Definition) fand schnell Eingang in die historisch-vergleichende Balkanlinguistik. Die Gegenüberstellung von Sprachbund und Sprachfamilie, d.h. von arealer und genetischer Verwandtschaft, war mit Sandfelds Ausführungen kompatibel (vgl. 4.1.1 Sprachbund versus Sprachfamilie). So traf es sich, dass dieser Begriff von einem Teil der Balkanlinguisten dankbar aufgenommen wurde, um ihre balkanlinguistische Forschungen theoretisch zu untermauern (vgl. folgendes Kapitel 2.3 Die Balkanlinguistik nach Sandfeld).

Der Balkansprachbund war von Anfang an ein Prototyp der Sprachbundforschung. Dabei blieb es freilich nicht. So wie die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen dazu Anreiz gab, alle weiteren Sprachen hinsichtlich ihrer genetischen Verwandtschaft zu ordnen, setzte nun das Bestreben ein, die Sprachen der Welt Sprachbünden zuzuordnen. Dabei beschränkte man sich zunächst auf Europa und angrenzende Gebiete. Lewy erstellt in seinem Buch Der Bau der europäischen Sprachen eine Karte, in der Europa und Westsibirien in 5 verschiedene Gebiete eingeteilt ist. Becker geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er einen Großteil der Welt geographisch fünf (!) verschiedenen Sprachbünden zuordnet. Man kann erahnen, wie er zu diesem Ergebnis kommt, wenn man seine Definition des Begriffs Sprachbund zugrunde legt:

Unter einem Sprachbund verstehen wir eine Gruppe von Sprachen, die durch gemeinsame Schicksale im gleichen Kulturraum und durch wechselseitige Beeinflussung einander so stark angenähert wurden, daß man in jeder von ihnen ungefähr das gleiche auf ungefähr die gleiche Art sagen kann. Wie diese Sprachbünde sich bilden und auflösen, was sie im Sprachleben bedeuten, und wie wir sie wissenschaftlich erfassen und darstellen können, das stellt einen noch auszubauenden Zweig der vergleichend-geschichtlichen Sprachkunde dar. (S. 5)

Das geschichtlich-kulturelle Verständnis von einem Sprachbund, das sich später in ähnlicher Form auch bei Décsy wiederfand, hatte nur noch wenig gemein mit dem Begriff, wie er durch Trubetzkoy definiert wurde. Erst Haarmann, der die Begriffe Sprachbund und Arealtyp als Synonyme verwendete, versuchte eine „Sprachbundgliederung Europas“ (S. 66) nach vorwiegend sprachwissenschaftlichen Kriterien.

Neben den Gesamtschauen über die Sprachbünde von Lewy bis Haarmann gab es vereinzelte Versuche, neben den Balkansprachbund auch andere (vermutete) Sprachbünde genauer unter die Lupe zu nehmen (vgl. Stolz, Sprachbund im Baltikum? Estnisch und Lettisch im Zentrum einer sprachlichen Konvergenzlandschaft). Doch in der allgemeinen Sprachbundforschung bleibt, so bemerkt Haarmann richtig "Der Balkansprachbund [...] der älteste bekannte, am frühesten erforschte Bund und gleichzeitig die am wenigsten umstrittene areale Spreachgruppierung überhaupt." (S. 77). So ist eine grundsätzliche Kritik am Prototyp Balkansprachbund im speziellen, die in neuerer Zeit deutlich zunahm (vgl. 4.3 Pro und contra (Balkan-)Sprachbund), zugleich eine Kritik am Begriff Sprachbund im allgemeinen.

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