Die Entwicklung des Begriffs Sprachbund in der Balkanlinguistik

HTML-Version, © 2000 / 2005 by Jörg Kruse

Zur Haupt-Navigation

Inhaltsangabe > 4. Die Sprachbundtheorie > 4.2 Spätere Ergänzungen zu Trubetzkoys Definition > 4.2.2 Die Erklärungsmodelle >

4.2.2.2 Unilaterale Beeinflussung der Sprachen?

Wie wir in Kapitel 3.2.3 gesehen haben, waren die Sprachwissenschaftler von Kopitar bis Sandfeld bestrebt, die Balkanismen auf eine Herkunftssprache zurüchzuführen, sei es auf ein Substrat (Thrako-Illyrisch) oder Adstrat (Griechisch). Eine besondere Terminologie zur Unterscheidung der einen Gebersprache von den Nehmersprachen führte Becker ein. In seinem Buch Der Sprachbund schrieb er:

So gibt es [...] die Gruppe der Meistersprachen. Sie sind fast immer die gestaltende Kraft der Sprachbünde. Selten genug begegnet man solchen, die auf freier, einigermaßen gleichverteilter Wechselwirkung zwischen grundsätzlich gleichberechtigten Sprachen beruhen. Behauptet wird es von kaukasischen Sprachen und vom Balkan, dabei wird wohl in jedem Fall doch eine Vorrangstellung gefunden werden. (S. 20)

Als Beispiel für eine Meistersprache nennt er das Latein:

wie [...] kurz nach der Völkerwanderung in Europa [...]. Dort war die Meistersprache bald (nach 800?) sogar eine tote Sprache [...] diese heilige Sprachen sollen der drohenden Zersplitterung wehren und einen festen Mittelpunkt bilden (ebd.)

Das Gegenstück dazu bilden freilich die "Schülersprachen":

Zur Meistersprache gehört zunächst die Schülersprache, die sich von ihr beeinflussen läßt. Das Deutsche war Schülersprache des Latein, später des Französischen im allerweitesten Sinne. Es ist heute besonders Schülersprache des Griechischen und des Englischen, aber nicht mehr in alter Weise und Stärke. [...] diese Sprachschülerschaften ergeben nicht eine Rangfolge, sondern erstreben eine Gleichstellung. Nach der Lehrzeit [...] ist der jeweilige Schüler ein gleichberechtigter Genosse. (S. 21/22).

Nun lässt sich Beckers Sprachbund nur bedingt mit dem Sprachbund, wie ihn Trubetzkoy definierte, vergleichen. Darüber hinaus ist man in der Zwischenzeit auch in der Balkanlinguistik dazu übergegangen, wie Becker selbst widerwillig eingesteht, die Gemeinsamkeiten innerhalb des Balkansprachbundes mit einer "freie[n], einigermaßen gleichverteilte[n] Wechselwirkung zwischen grundsätzlich gleichberechtigten Sprachen" zu erklären.

Den Balkansprachbund und die verschiedenen Erklärungsansätze für verschiedene Balkanismen (vgl. 3.2.1.3 Komplexe Erklärungsmodelle) hat Birnbaum im Sinn, wenn er folgende Aussage über den Sprachbund im allgemeinen trifft:

Ein Sprachbund enthält zumindest in der Regel mehr als bloß zwei Sprachen, und die zwischen den einzelnen Mitgliedern vorliegende Beeinflussung (Interferenz) ist wechselseitig bzw. jedenfalls niemals völlig einseitig, d. h. eine im betreffenden Sprachbund vertretene Einzelsprache ist nie die alleinige Quelle sämtlicher für den Sprachbund charakteristischer Übnereinstimmungen und Ähnlichkeiten. (S. 14)

Auch Schaller setzt eine Mindestanzahl von (nicht verwandten) Sprachen voraus, um einseitige Beeinflussung auszuschließen (vgl. Zitat in 4.2.3.1 Genetische vs. areale Verwandtschaft sowie 4.2.3.3 Mindestanzahl der Sprachen)

4.2.3.1 Genetische vs. areale Verwandtschaft >